Als bekennender Kosmopolit ist für Wieland die FREIHEIT DER PRESSE eines unserer höchsten Güter, ohne welche die Grundlage unserer jetzigen Kultur nicht möglich gewesen wäre.
Heutzutage genießen wir die Normalität dieses Informationsflusses und Austausches über wesentlich mehr Medien als nur das Buch oder die Zeitung.
In manchen Ländern der Welt jedoch werden diese Quellen
nicht nur manipuliert, sondern im schlimmsten Fall sogar beschnitten.
Diese Lesung soll bewusst machen, wie wertvoll, aber auch wie gefährdet diese/unsere Freiheit ist, dass nicht nur Schriftsteller
(im weitesten Sinne) in der Pflicht stehen, Information wahrheitsgetreu wiederzugeben, sondern dass jeder freie, aufgeklärte Bürger sein Recht auf Wahrheit geltend machen muss, um dieses Kulturgut zu bewahren.
Als Begründer der Zeitschrift „DerTeutsche Merkur“ schrieb Christoph Martin Wieland diesen Text in den Jahren 1785–88, doch vor dem Hintergrund unserer heutigen weltweiten medialen, aber auch politischen Entwicklung gewinnt er erneut an Brisanz und Aktualität.
Christoph Martin Wieland
DAS GEHEIMNIS DES KOSMOPOLITENORDENS UND ÜBER
DIE RECHTE UND PFLICHTEN DER SCHRIFTSTELLER
Ich bin zwar nur ein einzelner, unbedeutender Weltbürger und spiele in den tragisch-komischen oder komisch-tragischen Haupt und Staatsaktionen, die auf dem allgemeinen Weltschauplatz aufgeführt werden, weder eine große noch eine kleine Rolle.
Da ich aber gleichwohl die Ehre habe, ein Mensch zu sein, und somit genötigt bin, an allen menschlichen Dingen mehr oder weniger Anteil zu nehmen, so habe ich mich nicht entbrechen können, auch bei dem höchst interessanten, und in einer Art einzigen großen Drama, seitdem der Vorhang aufgezogen wurde, einen der aufmerksamsten und wärmsten Zuschauer abzugeben.
Vermöge dem Orden, zu welchem ich mich bekenne, hege ich sowohl von den Rechten und Pflichten des Menschen ziemlich einerlei Begriff.
Die Natur – sagt ein Kosmopolit, hat einem jeden Menschen die besondere Anlage zu dem, was er sein soll, gegeben. Und der Zusammenhang der Dinge setzt ihn in Umstände, die der Entwicklung derselben mehr oder weniger günstig sind. Aber ihre Ausbildung und Vollendung hat sie ihm selbst anvertraut. Ihm kommt es zu, was die Natur mangelhaft gelassen oder gar gefehlt hat zu verbessern und seine Anlagen zu Kunstfertigkeiten zu erheben.
Es ist sein eigenes Interesse, und er kann kein angelegeneres Geschäft haben, als das Bestreben, der Vollkommenheit in seiner Art, die in gewissem Sinne keine Grenzen hat, so nahe zu kommen als möglich.
Da der Plan seines Lebens nicht von ihm alleine abhängt, da er zu jedem Gebrauche, den der oberste Regierer der Welt von ihm machen will, bereit sein soll, so ist seine erste Pflicht, sich die
m ö g l i c h s t e T a u g l i c h k e i t zu erwerben. Ein hoher Grad dieser Tauglichkeit, insofern er von Übung, Fleiß, Anstrengung und Beharrung, und also von unserem eigenen Willen abhängt, ist, was die Kosmopoliten T u g e n d nennen, und das I d e a l derselben der Maßstab, wonach sie den Wert einzelner Personen bewerten. Aus dem bisher gesagten ergibt sich der Unterschied zwischen
W e l t b ü r g e r n und W e l t b e w o h n e r n.
Die erstere Benennung kommt nicht nur allen Menschen, sondern selbst der ganzen Leiter der unter ihnen herabsteigenden Tiere zu. Aber ein B ü r g e r d i e s e r W e l t in der engeren und edleren Bedeutung dieses Wortes kann nur derjenige heißen, den seine herrschenden Grundsätze und Gesinnungen, durch ihre reine Zustimmung mit der Natur, tauglich machen.
Ein Prinzip, das unter die ersten Grundgesetze ihres Ordens fällt, ist: dass in der moralischen Ordnung der Dinge alle Bildung, alles Wachstum, alle Fortschritte zur Vollkommenheit durch natürliche, sanfte und von Moment zu Moment unmerkliche Bewegung, Nahrung und Entwicklung veranstaltet und zu Stande gebracht werden muss. Alle plötzlichen Störungen des Gleichgewichts der Kräfte, alle gewaltsamen Mittel, um in k ü r z e r e r Z e i t durch
S p r ü n g e zu bewirken, was nach dem ordentlichen Gange der Natur nur in viel längerer Zeit erwachsen konnte, alle Wirkungen, die so heftig sind, dass man das Maß der Kraft, die zu Hervorbringung der Sache nötig und hinlänglich sind, nicht dabei berechnen kann, sondern immer Gefahr läuft, weit mehr als nötig zu tun, kurz: alle tumultartigen Wirkungen der Leidenschaften, nach der Richtung
e i n s e i t i g e r V o r s t e l l u n g s a r t e n und übertriebenen Forderungen, wenn sie auch am Ende etwas Gutes hervorbringen sollten, zerstören zu gleicher Zeit so viel Gutes und richten, indem sie Großes steuern wollen, selbst meist größeres Übel an.
Wiewohl er mit dem besten Willen von der Welt, alles, was gut ist, gut zuheißen, die Maßregelung und Handlungen der Vorsteher des Staates nicht immer besingen und beklatschen kann, ihre Schwächen, Untugenden, Missgriffe, Inkonsequenzen u.s.w. sehr wohl sieht und ernstlich missbilligt, kurz: ob er die Gebrechen der Staatsverfassung, Gesetzgebung, Polizei, Ökonomie, und der ganzen Staatsverwaltung im Großen und im Kleinen, (vielleicht auch die Mittel ,diesen Gebrechen abzuhelfen, kennt), und nichts eifrigeres wünscht, als ihnen abgeholfen zu sehen, so kann man doch sicher darauf rechnen, dass er niemals aus eigennützigen oder patriotischen Beweggründen, noch unter irgend einem Vorwande die öffentliche Ruhe stört und irgendeine Verbesserung durch grundgesetzwidrige und gewaltsame Mittel zu bewirken trachten werde.
Nie hat ein Kosmopolit an einer Verschwörung, an einem Aufruhr, an Erregung eines Bürgerkrieges absichtlich Anteil gehabt, noch jemals diese oder ähnliche Mittel, die Welt zu verbessern, gebilligt, geschweige empfohlen und öffentlich zu rechtfertigen unternommen. Der Kosmopolit ist, vermöge seiner wesentlichsten Ordenspflichten, immer ein ruhiger Bürger, auch wenn er mit dem gegenwärtigen Zustande des gemeinen Wesens nicht zufrieden sein kann.
Der Kosmopolit befolgt alle Gesetze des Staates, worin er lebt, deren Weisheit und Gerechtigkeit und Gemeinnützigkeit offenkundig ist – als W e l t b ü r g e r und unterwirft sich dem Übrigen aus Notwendigkeit!
Er meint es wohl mit seiner Nation, aber er meint es ebenso wohl mit a l l e n A n d e r e n, und ist unfähig, den Wohlstand, den Ruhm und die Größe seines Vaterlandes auf absichtliche Übervorteilung und Unterdrückung anderer Staaten gründen zu wollen. Sie sind gleich weit von beiden Extremen entfernt, dem Menschen entweder die erste Rolle im Weltall zu geben oder sein Dasein für ein unbedeutendes Spiel des Zufalls, einen Traum ohne Zweck, Sinn und Zusammenhang anzusehen.
Es überzeugt sie, der V o r z u g d e r V e r n u n f t. Dass der Mensch, seiner scheinbaren Kleinheit ungeachtet, nicht bloß als organisierter belebter Stoff ein blindes Werkzeug fremder Kräfte, sondern, als denkendes und wollendes Wesen s e l b s t eine wirkende Kraft ist.
W i d e r s t a n d ist sogar einer ihrer Ordenspflichten, aber nur solange sie durch rechtmäßige Mittel geschehen können. Nur sind ihnen dazu keine anderen Waffen als die Waffen der Vernunft erlaubt – und in d i e s e r Art von Krieg, Verteidigung – und Angriffsweise so viel Verstand, Klugheit, Standhaftigkeit, Freimütigkeit und Beharrlichkeit zeigen, als nur immer möglich ist.
Wenn sie alles getan haben, so haben sie weiter nichts als ihrer Kosmopoliten Pflicht genug getan.
Aber sobald sie sehen, dass die brennenden Köpfe, die sich etwa an die Spitze ihrer besser Gesinnten und der Unterdrückten stellen, solche Wege einschlagen, die durch ihre natürlichen Folgen den Staat gewaltsam erschüttern müssen,-sobald es darauf angelegt wird, die abgezielten Verbesserungen teurer, als sie vielleicht wert sind, mit dem häuslichen Glücke, dem Wohlstand und dem Leben von Hunderttausenden zu erkaufen-dann ziehen sie sich zurück. Und wenn die Stimme der Vernunft, die in allen Dingen Mäßigung gebietet, nicht mehr gehört wird, stehen sie lieber von allem Wirken ab, ehe sie Gefahr laufen wollten, wider ihrer Absicht Schaden zu tun, und werden nicht eher wieder tätig, bis die Zeit gekommen ist, nach einem besseren Plane wieder aufzubauen, was unter den wilden Bewegungen des fanatischen Parteigeistes und des wütenden Kampfes der willkürlichen Macht, mit der beleidigten Menschheit, die sich frei zu machen und zu rächen sucht, zu Trümmer gehen müsste.
Die Kosmopoliter führen den Namen der W e l t b ü r g e r in der eigentlichen und eminentesten Bedeutung. Denn sie betrachten
a l l e V ö l k e r des Erdbodens als ebenso viele Zweige einer einzigen F a m i l i e, und das Universum als einen Staat, worin sie mit unzähligen anderen, vernünftigen Wesen Bürger sind, um unter allgemeinen Naturgesetzen die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern, indem jedes nach seiner besonderen Art und Weise für seinen eigenen Wohlstand geschäftig ist.
Das ganze Geheimnis liegt in einer gewissen natürlichen Verwandtschaft und Sympathie, die sich im ganzen Universum zwischen sehr ähnlichen Wesen äußert, und in dem geistigen Bande, womit Wahrheit, Güte und Lauterkeit des Herzens edle Menschen zusammenkettet.
Ich kenne kein stärkeres Band, um eine Gemeinheit auszumachen, die an Ordnung und Harmonie alle andere menschliche Gesell-
schaft übertrifft.
„Der Zweck des Ordens ist: Die Summe der Übel, welche die Menschheit drückt, so viel ihnen, ohne selbst Unheil anzurichten, möglich ist, zu vermindern, um die Summe des Guten in der Welt, nach ihrem besten Vermögen zu vermehren.“
Die Kosmopoliten behaupten, es gäbe nur eine Regierungsform, gegen welche gar nichts einzuwenden sei, und diese ist :
Die Regierungsform der VERNUNFT.
Sie bestünde darin: Wenn ein vernünftiges Volk von vernünftigen Vorgesetzten und vernünftigen Gesetzen regiert würde.
Es braucht wohl kaum daran erinnert zu werden, dass das Wort
v e r n ü n f t i g hier in seiner eigentlichen Bedeutung genommen wird, in der, wo es die wirkliche T ä t i g k e i t der Vernunft und die volle Ausübung der ihr zustehenden Herrschaft über den tierischen Teil der menschlichen Natur bezeichnet.
In den ältesten Zeiten, die man mit Recht die Kindheit der Welt nennt, wirkte die Vernunft meistens nur als Instinkt. Die Menschen, noch Kinder an Erfahrungen, sinnlich, lebhaft, leichtsinnig, unruhig, sorgten immer nur für den gegenwärtigen Augenblick, und sahen wenig mehr, wie Kinder von der Zukunft und den natürlichen, aber langsamen Folgen des Gegenwärtigen, voraus.
Wenige unter den Völkern der ältesten Zeiten wussten den Wert der Freiheit gehörig zu schätzen, noch wenigere wussten Freiheit mit bürgerlicher Ordnung und die Künste des Krieges mit den Künsten des Friedens zu verbinden.
Aus bekannten Ursachen erfolgt indessen die ebenso bekannte Wirkung, dass – bei dem schnellen Fortschritt der Kultur in einzelnen Künsten und Wissenschaften, die von der Erfindsamkeit, der Betriebsamkeit, dem hartnäckigen Fleiß und dem Wetteifer, den die Mitbewerbung hervorbringt – die höchste Kunst aller Künste, die königliche Kunst: V ö l k e r d u r c h G e s e t z g e b u n g und Staatsverwaltung in einen glücklichen Zustand zu setzten, verhältnismäßig am weitesten zurückgeblieben ist.
Noch immer liegt der größere und schönere Teil Europas unter einem, die edelsten Kräfte der Menschheit erstickenden Druck. Die Überreste der barbarischen Verfassung, der Unwissenheit und der Irrtümer eines rohen und finsteren Jahrtausends. Noch sind in einigen unserer mächtigen Reiche, die Rechte des Throns nicht aus einander gesetzt, nicht gegeneinander abgewogen und dem ersten Grundgesetz aller bürgerlichen Gesellschaft gemäß bestimmt. Noch gibt es Staaten, wo nicht die allgemeine Vernunft, sondern der oft sehr b l ö d s i n n i g e V e r s t a n d und der schwankende Wille
e i n e s E i n z i g e n, oder der Wenigen, die sich seiner Autorität zu bemächtigen wissen, die Quelle der Gesetze ist.
„… das Ärgste ist, dass wir uns zu Tode schreiben können, ohne dass darum ein einziger Schurke weniger in der Welt wird.“
Noch wird das, was man Justizpflege nennt, in den meisten Ländern durch barbarische oder schlecht zusammenhängende und auf Zeit und Umstände übel passende Gesetze geschändet. Noch ist in vielen Staaten nichts ungewisser, als die Sicherheit des Eigentums, der Ehre, der Freiheit und des Lebens der Bürger.
Und dies alles in Europa!
In einem Jahrhundert, wo Kunst und Wissenschaft, Geschmack, Aufklärung und Verfeinerung, in verhältnismäßig kurzer Zeit, Stufen erstiegen haben, von deren Höhen man in einer Art von Schwindel auf die vorigen Jahrhunderte herabsieht.
Aber auch in diesen wichtigen und zum Glück so wesentlichen Stücken scheint sich (wenn sich unser Vertrauen nicht betrügt) der gegenwärtige Zustand von Europa einer wohltätigen Revolution zu nähern.
Einer Revolution, die nicht durch willkürliche Empörungen und Bürgerkrieg, sondern durch ruhige, unerschütterliche, standhafte Beharrlichkeit bei einem pflichtgemäßen Widerstand, nicht durch das verderbliche Ringen der Leidenschaften mit Leidenschaften, der Gewalt mit Gewalt, sondern durch die sanfte, überzeugende und zuletzt unwiderstehliche Übermacht der Vernunft bewirkt werden wird.
Kurz, einer Revolution, die, ohne Europa mit Menschenblut zu überschwemmen und in Feuer und Flammen zu setzen, das bloße wohltätige Werk der Belehrung der Menschen über ihr wahres Interesse, über ihre Rechte und Pflichten, über den Zweck ihres Daseins und die einzigen Mittel, wodurch derselbe sicher und unfehlbar erreicht werden kann, sein wird.
Es erhellt aus dem vorhin Gesagten, dass die Kosmopoliten die noch jetzt bestehenden Regierungsformen so zu sagen als bloße Gerüste zu Aufführung jenes ewig bestehenden „Tempels der allgemeinen Glückseligkeit“ betrachten, woran im gewissen Sinne alle vorhergehenden Jahrhunderte gearbeitet haben.
Aber D e s p o t i s m u s ist nach ihren Begriffen eine barbarische Regierungsform, welche, um lange bestehen zu können, Umstände und Bedingungen voraussetzt, die bei den aufgehellten Nationen Europas n i c h t m e h r denkbar sind.
Überhaupt ist er – der Despotismus, in diesem Weltteil, selbst in den Zeiten, die der Kultur und Aufklärung vorhergegangen, immer unbekannt gewesen. Jahrtausende lang war Freiheit das Element sowohl der rohen als seiner policierten und gebildeten Bewohner.
Gegen die ewigen Gesetze der Vernunft, gegen die wesentlichen Rechte der Menschheit gilt: kein Verzicht, keine Verjährung, keine Verabsäumung der Gelegenheit, sie geltend zu machen oder anzusprechen. Alle Stifter der heutigen Europäischen Reiche, waren Anführer freier Menschen.
Das Erste, was Menschen, unter welcher Regierungsverfassung sie leben zu fordern haben, und was ihnen nur ein erklärter Tyrann streitig machen könnte, ist: M e n s c h z u s e i n – und Menschen können sie nicht sein, wenn sie Sklaven sind.
Da die vernunftmäßigste Verfassung und Regierung der Völker mit langsamen, aber desto festeren Schritten sich nähert, durch nichts mehr beschleunigt werden kann, als durch die möglichste Kultur der Vernunft, die möglichste Ausbreitung der Grundwahrheiten, die möglichste Publizität aller Tatsachen, Beobachtungen, Entdeckungen, Untersuchungen, Vorschläge zu Verbesserungen oder Warnung vor Schaden, deren Bekanntmachung einzelnen Gesellschaften und Staaten oder dem menschlichen Geschlecht überhaupt nützlich werden kann, so betrachten die Kosmopoliten
die F r e i h e i t d e r P r e s s e, ohne welche dies alles nicht bewerkstelligt werden könnte, als das dermalige wahre
P a l l a d i u m d e r M e n s c h h e i t , von dessen Erhaltung alle Hoffnung einer besseren Zukunft abhängt, dessen Verlust hingegen eine lange und schreckliche Folge unabsehbarer Übel nach sich ziehen würde.
Bei den großen Mengen von Schriften, worin gereiste Leute die auf ihren Reisen und Wanderungen gesammelten Bemerkungen und Nachrichten in Briefen an Freunde oder vielmehr an das Publikum zum Druck befördern, und da die Begierde der leselustigen Welt nach Schriften dieser Art, natürlicher Weise der reiselustigen Schriftsteller und briefstellenden Wanderer, täglich vermehrt, möchte wohl manchem mit einem Maßstabe gedient sein, an welchem sie die Befugnisse solcher Schriftsteller und die Grenzen ihrer Freiheit bei Bekanntmachung ihrer Bemerkungen, Nachrichten und Urteile in allen vorkommenden Fällen mit Zuverlässigkeit bestimmen können.
Dieser Maßstab scheint mir in der folgenden Reihe von Wahrheiten enthalten zu sein. Ich gebe sie mit Zuversicht als Wahrheiten aus, weil ich nicht nur selbst von ihnen überzeugt bin, sondern auch glaube, dass sie jedem nur mäßig aufgeräumten und einiges Nachdenken fähigen Kopfes als Wahrheit einleuchten muss.
F r e i h e i t d e r P r e s s e i s t A n g e l e g e n h e i t
u n d I n t e r e s s e d e s g a n z e n M e n s c h e n –
g e s c h l e c h t s.
Ihr haben wir hauptsächlich die gegenwärtige Stufe von Kultur und Erleuchtung, worauf der größte Teil der Europäischen Völker steht, zu verdanken. Man raube uns diese Freiheit, so wird das Licht, dessen wir uns gegenwärtig erfreuen, bald wieder verschwinden. Unwissenheit wird bald wieder in Dummheit ausarten, und Dummheit uns wieder dem Aberglauben und Despotismus preisgeben. Die Völker werden in die Barbarei der finsteren Jahrhunderte zurücksinken, und wer sich dann erkühnen wird, die Wahrheit zu sagen, an deren Verheimlichung den Unterdrückern der Menschheit gelegen ist, wird ein Ketzer und Aufrührer heißen und als Verbrecher bestraft werden.
F r e i h e i t d e r P r e s s e ist nur darum ein R e c h t d e r
S c h r i f t s t e l l e r, weil sie ein Recht der, oder wenn man will, ein R e c h t p o l i c i e r t e r N a t i o n e n ist. Und sie ist bloß darum ein Recht, weil die Menschen, als vernünftige Wesen, kein angelegeneres Interesse haben, als wahre Kenntnis von allem, was auf irgend eine Art zu Vermehrung ihrer Vollkommenheit, etwas beitragen kann.
Die Wissenschaften, welche für den menschlichen Verstand das sind, was das Licht für unsere Augen, können und dürfen in keine anderen Grenzen eingeschlossen werden, als diejenigen welche uns die N a t u r s e l b s t gesetzt hat.
Die nötigste und nützlichste aller Wissenschaften, in welche alle übrigen eingeschlossen sind, ist die Wissenschaft des Menschen.
D e r M e n s c h h e i t e i g e n e s S t u d i u m i s t
– d e r M e n s c h !
Sie ist eine Aufgabe, an deren vollständiger und reiner Auflösung man noch Jahrhunderte arbeiten wird. Sie anzubauen, zu fördern, immer größere Fortschritte darin zu tun, ist der Gegenstand des Menschen-Studium.
Um heraus zu bringen, was dem Menschen möglich ist, muss man wissen was er wirklich ist und wirklich geleistet hat.
Um seinen Zustand zu verbessern und seinen Gebrechen abzuhelfen, muss man erst wissen, wo es ihm fehlt und woran es liegt.
Im Grunde ist also echte Menschenkenntnis – h i s t o r i s c h.
Die Geschichte der Völker nach ihrer ehemaligen und gegenwärtigen Beschaffenheit, in Verbindungen der Tatsachen und Begebenheiten, wie sie zusammenhängen, wie Wirkung oder Erfolg des einen Veranlassung oder Ursache des anderen wird, diese
P h i l o s o p h i e d e r M e n s c h e n g e s c h i c h t e ist nichts anderes, als Darstellung dessen, was sich mit dem Menschen zugetragen und immerfort zuträgt. Darstellung eines immer fortlaufenden Faktums, wozu man nicht anders gelangen kann, als: indem man die Augen aufmacht und sieht, und indem diejenigen, welche mehr Gelegenheit als alle anderen gehabt haben,
z u s e h e n w a s z u s e h e n i s t, ihre Beobachtungen anderen mitteilen.
Aus diesem Gesichtspunkt sind alle Beiträge zu beurteilen, welche von verständigen und erfahrenen Männern, Seefahrern, Landfahrern, Reisenden, Fußgängern, Gelehrten und Ungelehrten, (denn auch U n g e l e h r t e können den Geist der Beobachtung haben, und sehen oft aus gesünderen Augen, als Gelehrte von Profession) zur Erd-und Völkerkunde oder Menschenkenntnis gemacht worden sind.
Aus diesem Gesichtspunkt erkennt man ihre Schätzbarkeit, und dass dem Menschengeschlecht, jedem Volke, jedem Staatskörper und jedem einzelnen Menschen daran gelegen ist, dass solcher Beiträge recht viele in den allgemeinen Magazinen der menschlichen Kenntnisse niedergelegt werden.
Ein Augenzeuge kann, ohne Schuld seines Willens, unrichtig sehen!
Wer einem anderen, den er für glaubwürdig hält, etwas nachsagt, kann falsch berichtet worden sein. Der aufmerksamste und scharfsichtigste Beobachter ist, wie alle Menschen, der Möglichkeit des I r r t u m s unterworfen und kann einen wichtigen Umstand übersehen.
Es ist also kaum möglich, dass Schriften, worin Völker, Staaten, Sitten der Zeit und dergleichen historisch geschildert werden, selbst bei den reinsten Vorsätzen, die Wahrheit zu sagen, von allen Unrichtigkeiten gänzlich frei sein kann. Auch ist es möglich, dass jemand aus Unerfahrenheit oder aus dunklen Vorstellungen und Neigungen zuweilen unrichtig sehen und urteilen kann.
Aber – es wäre widersinnig, daraus den Schluss zu ziehen, dass man keine Schriften, deren Publizität der Welt nützlich ist oder werden kann, nicht mehr bekannt machen dürfte.
Alles, was daraus folgt, ist: dass jeder, der die Sache besser zu wissen glaubt, oder die Irrtümer eines Schriftstellers aufzudecken glaubt und zu berichtigen im Stande ist, nicht nur volle Befugnis, sondern sogar eine Art von Pflicht hat, der Welt damit zu dienen.
Insbesondere ist jedem großen Volke – und ganz vorzüglich dem unsrigen, dessen Staatskörper aus so mannigfaltigen und ungleichartigen Teilen mehr zufälliger Weise zusammengewachsen als planmäßig zusammengesetzt ist, daran gelegen, seinen
g e g e n w ä r t i g e n Z u s t a n d so genau als möglich zu kennen.
Jeder noch so geringe Beitrag, der über die Beschaffenheit der Staatswirtschaft, Polizei, bürgerlichen und militärischen Verfassung, Religion, Sitten, öffentliche Erziehung, Wissenschaft und Künste, Gewerbe, Landwirtschaft u.s.w. und ü b e r d i e S t u f e der Kultur, Aufklärung, Humanisierung, Tätigkeit und Emporstreben zum Besseren, die derselben erreicht hat, e i g e n e s L i c h t verbreitet – jeder solcher Beiträge ist schätzbar und verdient unseren Dank.
Die erste und wesentlichste Eigenschaft eines Schriftstellers, welcher einen Beitrag aus e i g e n e r B e o b a c h t u n g liefert, ist, dass er den a u f r i c h t i g e n W i l l e n habe, die
W a h r h e i t zu sagen.
Folglich keiner Leidenschaft, keiner vorgefassten Meinung, keiner interessierten Privatabsicht w i s s e n t l i c h eigenen Einfluss in seine Nachrichten und Bemerkungen erlaube.
Seine erste Pflicht ist W a h r h a f t i g k e i t und U n p a r t e i –
l i c h k e i t.
Und da wir zu allem berechtigt sind, was eine notwendige Bedingung
der Erfüllung unserer Pflicht ist, so ist auch F r e i m ü t i g k e i t
ein Recht, das keinem Schriftsteller dieser Klasse streitig gemacht werden kann. Er muss die Wahrheit sagen w o l l e n und
d ü r f e n.
Diesem nach ist ein Schriftsteller vollkommen berechtigt, von dem Volke, über welches er uns seine Beobachtungen mitteilt, a l l e s zu sagen, was er gesehen hat. Gutes und Böses, Rühmliches und Tadelhaftes.
Mit untreuen Gemälden, welche nur die schöne Seite darstellen
und die fehlerhafte entweder verdunkelt oder gar durch schmeichlerische Verschönerungen verfälscht, i s t d e r
W e l t n i c h t g e d i e n t !
Niemand kann sich beleidigt halten, wenn man ihn abschildert wie
er ist! Die H ö f l i c h k e i t, welche uns verbietet, einer Person in öffentlicher Gesellschaft ihre Fehler zu sagen, ist k e i n e
P f l i c h t des Schriftstellers, der von Menschen überhaupt oder von Nationen und Staaten – wie groß oder wie klein sie auch sein mögen, zu sprechen hat.
Eine Nation würde etwas unbilliges verlangen und sich lächerlich vor der Welt machen, welche für ganz untadelig und von allen Seiten vollkommen gehalten sein wollte.
Und ganz untadelig müsste sie doch sein, wenn ein verständiger Beobachter gar nichts an ihr auszusetzen hätte.
Regenten, die von ihrer Würde und ihrem Amte die gehörige Empfindung haben, verachten Schmeicheleien und wissen, dass, wer das Herz hat, ihnen unangenehme Wahrheiten zu sagen, es gewiss ehrlich mit ihnen meint.
„Der beste Fürst ist der, dessen größter Wunsch ist, der beste Mensch unter seinem Volke zu sein.“
Und gewiss, ein SOLCHER kann und wird es nicht übel finden, wenn man ihm mit Bescheidenheit zu verstehen gibt, was die Nachwelt ohne Scheu heraus sagen wird, wenn es zu spät für ihn sein wird, Nutzen daraus zu ziehen.
Nun – so lange die Menschen noch Köpfe h a b e n, werden eben die Rousseaus, Voltaires und andere, die auf die intellektuelle Welt Einfluss haben, so gut für Schöpfer ihres Jahrhunderts gelten müssen, als die eigentlichen Monarchen.
Alles, was in solchem Falle die Ehrerbietung gegen eine ganze Nation oder Gemeinheit fordert, ist, in a n s t ä n d i g e n Ausdrücken, ohne Übertreibung, Bitterkeit und Mutwillen von ihren blinden Seiten zu sprechen und seine Unparteilichkeit dadurch zu beweisen, dass man ihren Vorzügen und alles, was an ihr zu rühmen ist, Gerechtigkeit widerfahren lasse.
Zur Erlangung einer richtigen Kenntnis von Nationen und
Zeitaltern ist hauptsächlich von Nöten, dass man das
U n t e r s c h e i d e n d e oder C h a r a k t e r i s t i s c h e
eines jeden Volkes kennen lerne.
Charakteristisches äußert sich gewöhnlich eben sowohl, ja oft noch stärker, in den F e h l e r n als wie in V o l l k o m m e n h e i t.
Oft sind Fehler nur ein Übermaß von gewissen Eigenschaften,
die in gehörigem Maße sehr löblich sind, wie zum Beispiel geziertes Wesen ein Übermaß von Eleganz ist. Fehler dieser
Art bemerken heißt nicht beleidigen, sondern einen D a n k
v e r d i e n e n d e n W i n k geben, wo und wie man in seiner Art besser und lobenswürdiger werden kann.
Ein unbefangener Beobachter, den die Natur mit Scharfsinn und Lebhaftigkeit des Geistes ausgestattet hat, sieht überall, wo er hinkommt, die Menschen in ihrem Tun und Lassen, ihren Eigenheiten, Schiefheiten und Albernheiten, in ihrem natürlichen Lichte. Und ohne die mindeste Absicht, etwas lächerlich machen zu wollen, findet sich, dass man über das Lächerliche – lachen oder lächeln muss.
„Wohl dem Lande, das nur lächerliche Fehler hat.“
Wer aus einem großen Staate in einen anderen kommt, worin Verfassung und Nationalcharakter oder Nationalsitten stark abstechen – wie z.B. aus einem m i l i t ä r i s c h e n in einen,
der seinen Wohlstand dem F r i e d e n und den Künsten des Friedens zu verdanken hat, der bringt eine Disposition mit sich, alles das zu bemerken, was den Unterschied zwischen beiden ausmacht, weil dies gerade die Züge sind, die ihm am stärksten auffallen. Daher kommt es dem ganz natürlich, dass er ein Belieben daran findet, das Charakteristische der einen und der anderen Nation
g e g e n e i n a n d e r z u s t e l l e n und miteinander zu vergleichen.
So wie es keinen wissenschaftlichen Gegenstand gibt, den man nicht untersuchen, ja selbst keinen Glaubenspunkt, den die Vernunft nicht beleuchten dürfte, um zu sehen, ob er glaubwürdig sei oder nicht, so gibt es auch keine historische und keine praktische Wahrheit, die man mit einem Interdikt belegen, oder für Kontraband zu erklären berechtigt wäre.
Es ist w i d e r s i n n i g, Staatsgeheimnisse aus Dingen machen
zu wollen, die aller Welt vor Augen liegen, oder übel zu nehmen, wenn jemand der ganzen Welt sagt, was einige hundert tausend Menschen sehen, hören und fühlen.
Was Kosmopoliten übrigens von anderen g e h e i m e n O r d e n unterscheidet, ist: dass sie weder ein Geheimnis zu verbergen haben, noch aus ihren Grundsätzen und Gesinnungen eines machen.
Die ganze Welt darf wissen, wie sie denken, was sie unternehmen, und welche Wege sie gehen.
Was für Weisheit, sagen sie, kann man sich von Männern versprechen, die mit der feierlichsten Miene Puppen–an und auskleiden, blinde Kuh spielen oder Nadeln verstecken.
Ebenso widersinnig sind die scheinbaren Gründe, womit man eine vorgebliche Notwendigkeit sieht, der P r e s s e f r e i h e i t willkürlich Schranken zu setzen. Es ist unumstößlich erwiesen, dass man der P r e s s e f r e i h e i t keine anderen Grenzen setzen darf, als diejenigen, die jedem Schriftsteller, Buchhändler und Buchdrucker durch das gemeine bürgerliche und peinliche Recht gesetzt sind.
Schriften nämlich, deren Bekanntmachung in jedem policierten Staat, wie groß auch die persönliche Freiheit in demselben sein mag, ein Verbrechen ist, und, es vermöge der Natur der Sache, auch sein muss!!!
Also, alle Schriften, welche solche d i r e k t e Beleidigungen einzelner bekannter oder deutlich bezeichneter Personen enthalten, die in den bürgerlichen Gesetzen verboten und verpönt sind.
Schriften, welche g e r a d e z u Aufruhr und Empörung gegen die gesetzmäßige Obrigkeit zu erregen suchen.
Schriften, welche g e r a d e z u gegen die g e s e t z m ä ß i g e Grundverfassung des Staates gerichtet sind.
Schriften, welche g e r a d e z u auf den Umsturz aller Religionen, Sittlichkeit und bürgerlicher Ordnung arbeiten. Alle solche Schriften sind in jedem Staat ebenso gewiss strafwürdig als: Hochverrat, Diebstahl oder Meuchelmord.
Aber: Das Wörtchen d i r e k t oder g e r a d e z u ist hier nicht weniger als müßig. Es ist so w e s e n t l i c h, dass die ganze Strafwürdigkeit einer angeklagten Schrift gänzlich auf ihm beruht. Denn, sobald es irgendeinem bestellten Buchzensor oder dem bürgerlichen Richter erlaubt wäre, eine Schrift durch
F o l g e r u n g, die von s e i n e r Vorstellungsart, s e i n e r besonderen Meinung oder s e i n e n Vorurteilen, dem Grade
s e i n e s Verstandes oder Unverstandes, s e i n e r Sachkenntnis oder Unwissenheit, s e i n e s Gefühls oder Geschmacks abhingen, zu richten! … welches Buch wäre vor der Verdammung sicher ?
Und wissen wir nicht aus der Erfahrung, dass in Ländern, wo eine so w i l l k ü r l i c h e Z e n s u r herrscht, gerade die vortrefflichsten Bücher die ersten sind, die in das Verzeichnis der Verbotenen gesetzt werden.
EINFÜGUNG:
„Habt ihr Euch schon einmal überlegt, was passieren würde, wenn Theaterstücke zensiert würden? Was man da alles nicht spielen dürfte?“
DANTONS TOD, DER NAME DER ROSE, DON CARLOS, WILHELM TELL, RICHARD DER DRITTE, DIE PÄPSTIN, DER STELLVERTRETER, FRÜHLINGSERWACHEN, DIE RÄUBER, DER TOLLE TAG, DER ÖFFENTLICHE ANKLÄGER, MACBETH, MARAT SADE, FEGEFEUER IN INGOLSTADT, ARTURO UI, BIEDERMANN UND BRANDSTIFTER, JULIUS CÄSAR, MICHAEL KOHLHAAS, SATANISCHE VERSE, DIE REVOLUTION IST NOCH NICHT FERTIG, DER ZERBROCHENE KRUG …
Sei es, dass man einem Richter oder einem Buchzensor die Untersuchungen über Schriften, die als verbrecherisch gelten, überlässt …. immer ist unleugbar, dass jener nur solche Bücher verbieten kann, deren Verfasser dadurch ein V e r b r e c h e n begangen h a t.
Über die Frage aber, ob der Inhalt des Buches: alt oder neu, interessant oder unbedeutend, nützlich oder schädlich sei, ob sein Autor wohl oder übel räsoniere, hat keinen Zensor zu erkennen
– als, d a s P u b l i k u m.
Viel weniger kann aus irgendeinem solchen Vorwand ein Buch
mit Gewalt unterdrückt werden, ohne sich an den wesentlichen
R e c h t e n d e r G e l e h r t e n – R e p u b l i k zu vergreifen.
Die Wissenschaften, die Literatur und die Buchdruckerkunst, die edelste und nützlichste aller Erfindungen, die seit der Erfindung der alphabetischen Schreibkunst gemacht worden ist, gehören nicht diesem oder jenem Staate, sondern dem ganzen menschlichen Geschlechte zu.
Wohl dem Volke, das den Wert zu schätzen weiß, sie aufnimmt, pflegt, aufmuntert, schützt und in der Freiheit, die ihr Element ist, ungehindert weben und leben lässt.
Und weil kein menschliches Tribunal berechtigt ist, sich eine Entscheidung anzumaßen, wodurch es von seiner Willkür abhinge, uns so viel oder so wenig Licht zukommen zu lassen als ihm beliebt, so wird es wohl dabei bleiben müssen, dass jedermann – von Sokrates oder Kant bis zum obersten aller unnatürlich erleuchteten Schneider und Schuster, ohne Ausnahme, berechtigt ist, die Menschheit aufzuklären, wie er kann, sobald ihn sein guter oder böser Geist dazu treibt.
Wer ist berechtigt, die Menschheit aufzuklären?
Wer es kann!
Aufklärung, das ist so viel Erkenntnis als nötig, um das Wahre und Falsche immer und überall unterscheiden zu können. Alle Gegenstände unserer Erkenntnis sind entweder geschehene Dinge oder Vorstellungen, Begriffe, Urteile und Meinungen. Geschehene Dinge werden aufgeklärt, wenn man bis zur Befriedigung eines jeden unparteiischen Forschers untersucht, ob und wie sie geschehen sind. Es gibt kein anderes Mittel, die Masse der Irrtümer und schädlichen Täuschungen, die den menschlichen Verstand verfinstern, zu vermindern, als diese.
An welchen Folgen erkennt man die Wahrheit der Aufklärung?
Wenn die Anzahl der denkenden, forschenden, lichtbegierigen Leute überhaupt, besonders in der Klasse von Menschen, die bei der
N i c h t a u f k l ä r u n g am meisten zu gewinnen haben, immer größer wird.
Ich denke nicht gern Arges von meinen Nebenmenschen, aber ich muss gestehen, die Sicherheit der Aufklärungsmittel, die unseren Fragern so sehr am Herzen liegen, könnte mir seine Lauterkeit wider Willen verdächtig machen.
Solltet ihr etwa meinen, es gäbe respektable Dinge, die keine Beleuchtung aushalten können? Nein, so übel wollen wir nicht von seinem Verstande denken.
Aber ihr werdet vielleicht sagen: Es gibt Fälle, wo zu viel Licht schädlich ist, wo man es nur mit Behutsamkeit und stufenweise einfallen lassen dürfe?
Gut – nur kann dies mit der Aufklärung, die durch Unterscheidung des Wahren und Falschen bewirkt wird, in Deutschland wenigstens, der Fall nicht sein, denn so stockblind ist unsere Nation nicht!
Es wäre Spott und Schande, wenn wir, nachdem wir schon dreihundert Jahre lang nach und nach einen gewissen Grad von Licht gewohnt sind, nicht einmal im Stande sein sollten, hellen Sonnenschein zu ertragen.
Es greift sich mit Händen, dass das bloß Ausflüchte der lieben Leute sind, die ihre eigenen Ursachen haben, warum es n i c h t hell um sie sein soll.
Sagt, hab ich recht?
Was dünkt Euch von der Sache. Herr Nachbar mit dem langen Ohr?
Man mag die Sache betrachten, von welcher Seite man will, so wird sich finden, dass die menschliche Gesellschaft bei dieser Freiheit unendlich weniger gefährdet ist, als wenn die Beleuchtung der Köpfe und des Tuns und Lassens der Menschen als M o n o p o l oder ausschließliche Innungssache behandelt wird.
Vor allen anderen Völkern hat die Deutsche Nation vorzügliche Ursache, eine Beschützerin der Pressefreiheit zu sein.
Sie, in deren Schoß zuerst die Erfindung der Typographie und bald darauf die mutvollen Männer entstanden sind, die bloß durch den freien Gebrauch, den sie von jeher machten, fähig wurden, die Hälfte Europas von der Tyrannei des Römischen Hofes zu befreien, die Rechte der Vernunft gegen uralte Vorurteile zu behaupten und den unabhängigen Geist der Untersuchung, der nach und nach über alle Gegenstände der menschlichen Kenntnis ein so wohltätiges Licht verbreitete, aus einem mehr als tausendjährigen Schlummer
zu befreien.
Wie übel stünde es uns an, unsere eigenen Wohltaten zurück zu- nehmen, den Fortgang der Wissenschaft mitten in ihrem muntersten Lauf aufzuhalten, und der Aufklärung, der wir schon so viel Gutes zu danken haben, und von welcher wir und unsere Nachkommen noch so viel Besseres uns versprechen dürfen, unnatürliche Grenzen setzen zu wollen, da sie doch, vermöge der Natur des menschlichen Geistes eben so grenzenlos ist, als die Vollkommenheit, wozu die Menschheit mit ihrer Hilfe gelangen kann und soll.
Ich verstehe unter Freiheit, an welche alle Menschen einen gerechten Anspruch haben:
Die Befreiung von willkürlicher Gewalt und Unterdrückung.
Gleiche Verbindlichkeiten aller Glieder des Staates, den Gesetzen der Vernunft zu gehorchen.
Ungehinderten Gebrauch unserer Kräfte, ohne irgendeine Einschränkung.
Freiheit zu denken, Freiheit der Presse, Freiheit des Gewissens in allem, was den Glauben an ein höchstes Wesen und dessen Verehrung betrifft. Eine Freiheit, ohne die der Mensch, als vernünftiges Wesen, den Zweck seines Daseins nicht erfüllen kann.
Eine Freiheit, die ihm also nicht nur durch die Grundverfassung eines Staates garantiert wird, sondern zu deren rechten Gebrauch er auch durch seine Erziehung gebildet werden muss.
A l l e s w a s w i r w i s s e n k ö n n e n,
d ü r f e n w i r a u c h w i s s e n.
Ende
EINFÜHRUNG WIELAND LESUNG
„PRESSE ! FREIHEIT ?“
durch Redaktions-Leiter GERD MÄGERLE
Sehr geehrte Damen und Herren,
15 getötete Journalisten, 160 Journalisten und Online-Aktivisten und Bürgerjournalisten in Haft – das „Barometer der Pressefreiheit“ des Vereins „Reporter ohne Grenze“ zeigt für 2015 bereits nach zweieinhalb Monaten eine erschreckende Bilanz.
Menschen werden ermordet, weil sie es sich zur Aufgabe gesetzt haben, für die Freiheit der Gedanken zu kämpfen und uns alle über die Geschehnisse der Welt zu informieren, diese einzuordnen oder zu kommentieren – auch in satirischen Weise.
8 dieser 15 getöteten Journalisten arbeiteten für das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“. Der Anschlag islamistischer Terroristen auf die Redaktionsräume in Paris am 7. Januar hat weltweit für Entsetzen gesorgt und zu einem Aufschrei geführt.
Ein Anschlag, der auch gezeigt hat, wie zerbrechlich ein Recht ist, das wir in unseren westlichen Verfassungen als Grundrecht verankert haben – die Pressefreiheit. Ein Grundrecht das gerade für viele junge Menschen in diesem Land so selbstverständlich ist, dass sie kaum mehr darüber nachdenken. Ein Grundrecht jedoch – und das hat der Anschlag von Paris gezeigt, täglich neu erkämpft und gleichzeitig verteidigt werden muss.
Als Cornelia Sikora mich im vergangenen Herbst fragte, ob ich als Zeitungsredakteur bereit wäre, zur heutigen Lesung einige Worte zu sprechen, war uns beiden nicht bewusst, auf wie dramatische Weise das Thema Pressefreiheit an Aktualität gewinnen würde. Möglicherweise hätten wir uns ansonsten einen schönen Abend gemacht, uns zurückgelehnt, Christoph Martin Wielands kluge Gedanken zu Presse und Meinungsfreiheit gehört und uns damit beruhigt, dass all das, wofür er sich Ende des 18. Jahrhunderts stark machte, für uns im 21. Jahrhundert selbstverständlich ist.
Die vergangenen Wochen seit Jahresanfang haben gezeigt – dass es eben nicht so ist. Die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, die der Weltbürger – der Kosmopolit – Christoph Martin Wieland formulierte, sind heute so aktuell wie zur Zeit ihrer Entstehung – dem Zeitalter der Aufklärung.
Wieland sieht die Pressefreiheit als ein Menschenrecht. Der Mensch als Vernunftwesen hat ein Recht auf Erkenntnis und Wahrheit. Sie bilden die Grundlage dessen, worauf die Kultur und Erleuchtung der meisten europäischen Völker beruht. Gäbe es diese Freiheit nicht, so würden schon bald wieder Unwissenheit und Dummheit, Aberglauben und Despotismus um sich greifen. So schreibt es Wieland sinngemäß 1785 in dem von ihm herausgegebenen „Teutschen Merkur“, der langlebigsten und auflagenstärksten Zeitschrift des 18. Jahrhunderts.
Er tat dies nicht ohne Grund. Wieland war selbst Opfer von Zensur und Bücherverbrennung. Vieles von dem, was wir Redakteure und Journalisten heute in unserer Ausbildung lernen, was die Prinzipien unsere täglichen Arbeit bildet, das hat uns Wieland, quasi als Kollege, bereits vor 230 Jahren mit auf den Weg gegeben.
So soll der Schreiber Ereignisse und Themen immer aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, um eine einseitige Darstellung zu vermeiden. Er muss den aufrichtigen Willen haben die Wahrheit zu sagen. Wieland meint damit, dass sich der Schreiber keiner Leidenschaft, keiner vorgefassten Meinung, keiner Privatabsicht hingeben darf. Wahrhaftigkeit und Unparteilichkeit als oberste Pflicht.
Aber er formuliert auch Einschränkungen. So darf die Presse und Meinungsfreiheit niemanden beleidigen, die Obrigkeit angreifen oder zu einem Umsturz aufrufen.
Nun mag man Letzteres rückblickend und mit dem Wissen aus dem vergangen Jahrhundert möglicherweise in Zweifel ziehen. Noch immer würde wohl ansonsten ein eiserner Vorhang mitten durch Europa verlaufen. Die Kritik an bestehenden Systemen – auch durch die Presse – hat ihren Beitrag dazu geleistet, dass wir heute in einem freien und aufgeklärten Europa leben.
Wielands Forderung, dass Presse und Meinungsfreiheit niemanden persönlich beleidigen darf, scheint mir heute allerdings aktueller denn je. Allzu häufig tritt in einer immer schneller getakteten Medienwelt die Sache hinter der Person zurück. Nur wenn es ordentlich menschelt, so lautet das Credo der Medienmacher, hat eine Geschichte überhaupt noch eine Chance gelesen, gesehen oder gehört zu werden. Dass dabei in manchen Medien mit Vorliebe gerne über das Ziel hinaus geschossen wird, brauche ich ihnen nicht zu erzählen. So stehen mit Hilfe des Internets und sozialer Netzwerke Menschen heute binnen kürzester Zeit am medialen Pranger, ohne die Chance zu haben, darauf rechtzeitig zu reagieren. Im digitalen Zeitalter ist jeder Bürger Journalist und kann Medienopfer – im Zweifel auch anonym – produzieren. Die Verbreitung von Behauptung und Anschuldigung ist unkontrollierbar und irreversibler als in Zeiten der „nur“ gedruckten Zeitung mit ihrer begrenzten Reichweite. Was heutzutage erst einmal geschrieben ist, ist dauerabrufbar- und zwar weltweit – und kaum mehr zu löschen.
So mancher Medienschaffende macht sich deshalb nicht einmal mehr die Mühe einer sauberen Recherche, sondern übernimmt ungeprüft das, was ihm andere digital als scheinbare Tatsache servieren. Im Rennen darum, der Schnellste oder Lauteste zu sein, bleibt für eine Überprüfung von Behauptungen zuweilen keine Zeit mehr. Und im schlimmsten Fall ist die Realität ja so viel unspektakulärer als der vermeintliche Skandal. Frei nach dem Motto: Ich recherchiere mir doch nicht meine schöne Geschichte kaputt.
Es braucht deshalb neben der Freiheit der Presse, die sich gegen Zensur und Einflussnahme zur Wehr setzt, auch die verantwortungsvolle Presse, mehr denn je.
Ich erwähnte Eingangs die 15 in diesem Jahr getöteten Journalisten. Ob solche Gewalttaten auch in Deutschland möglich wären? Vor einem Jahr hätte ich eine solche Frage womöglich verneint. Aber seit selbsternannte Vaterlandsretter und Verschwörungstheoretiker wöchentlich „Lügenpresse“ – schreiend durch die Straßen ziehen, verstärkt sich bei mir der Eindruck, dass jeder Journalist, der ihre vereinfachte Weltsicht kritisch betrachtet, zur Zielscheibe werden kann.
Ein Beispiel dafür sind jene Rechtsextremisten, die Anfang des Jahres versuchten, einen kritischen Journalisten dadurch einzuschüchtern, in dem sie eine gefälschte Todesanzeige mit seinem Namen verbreiteten. Es sind solche Fälle, die regelmäßig zu einem Aufschrei führen und Politiker in Sonntagsreden dazu veranlassen, das hohe Gut der Pressefreiheit zu beschwören.
Über das alltägliche Ringen um die Pressefreiheit in deutschen Redaktionen, erfährt man dagegen eher wenig. Weil es sehr viel subtiler passiert: Auf jeden hauptberuflichen Journalisten in Deutschland kommt inzwischen mehr als als ein PR-Mitarbeiter. Diese versuchen im Interesse ihrer Auftraggeber aus Politik und Wirtschaft deren Botschaften und Anliegen redaktionell zu platzieren.
Und dabei geht es längst nicht mehr um offensichtliche Schleichwerbung oder plumpe Meinungsmache, die leicht zu erkennen wäre. Die PR-Branche hat sich in den vergangenen Jahrhunderten zu einem lukrativen Geschäft entwickelt, in dem sich ebenfalls journalistische Profis tummeln, die sehr genau wissen, auf welche Häppchen die Kollegen bei Zeitung Radio und Fernsehen regieren. Will sagen: In einer immer stärker, von Zeit und Kostendruck geprägten Nachrichtengeschäft, tut sich ein Redakteur zunehmend schwerer, gut gemachte PR von tatsächlicher Relevanz zu unterscheiden. Und im Zweifel greift er darauf ungeprüft zurück, weil es der bequeme und schnellere Weg ist.
Vor diesem Hintergrund könnte ich mir einen Christoph Martin Wieland mit einer Haltung sehr gut als Redakteur im 21. Jahrhundert vorstellen. Mit seinen Rechten und Pflichten, die er den Schriftstellern in den 1780er Jahren mit auf den Weg gab, wäre er auch für seine Nachfolger in den heutigen Redaktionen sicher ein guter und gefragter Ratgeber.
Deshalb, lieber Kollege Wieland, Du hast das Wort.
Vielen Dank.